EcoOnline Logo
 

Helge Schalk

Von Namen und Rosen.
Eine Anregung zur Lektüre

Vor einiger Zeit schrieb mir eine Schülerin, die sich im Rahmen einer Facharbeit mit Ecos Rosenroman befasste, in folgender Sache: "Ich versuche herauszufinden, ob das Buch wirklich auf den lateinischen Manuskripten beruht, die in der Einleitung erwähnt sind, oder ob es sich um pure Fiktion handelt." Diese Frage verblüfft zunächst, handelt es sich doch um ein Stück fiktionaler Literatur. Und Louis Mackey, der erwägt, das Erstaunen der gelehrten Welt hervorzurufen, indem man verkündet: ja, man habe die lateinische Handschrift entdeckt, rät doch eher davon ab, denn "...das Kind, das seinen leiblichen Vater kennt, weiß mehr als ihm guttut".(1)

Bestellen bei Amazon:

 

Haben wir aber nicht trotz aller Fiktionalität Sehnsucht nach der Realität? Kaum ein anderer Roman mit historischer Anlage hat unser Bild vom Mittelalter so stark geprägt wie Ecos Rosenroman. Und die Themen des Buchs, der Glaubensstreit, die dargestellten Orden, die Inquisition, einige der handelnden Figuren, Dialog-Teile sind geschichtliche Data. Da verwundert es nicht, wenn man für bare Münze nimmt, was der Erzähler uns einführend glauben machen will: "Natürlich, eine alte Handschrift"...

Schon der Titel verspricht eine Dopplung des Inhalts; einfach gesagt, in Namen und Rosen. Eine Dopplung der Welt in Zeichen und Entitäten. In Erzählung und Erzähltes. Wir sind schon dadurch dazu aufgefordert, zwei Ebenen der Deutung auseinanderzuhalten, wenn wir uns mit dem Rosenroman befassen: Historienerzählung und Detektivgeschichte auf der einen Seite - Erzähltes, das Was des Buchs - und semiotische Theorie auf der anderen - Erzählung, das Wie. Dies entspricht auch Ecos textsemiotischer These über Literatur, man müsse eine "normale" und eine "kritische" Lektüretätigkeit unterscheiden; man könne das Spiel eines Textes spielen oder dessen Spielregeln analysieren (2). Und das eine setze das andere voraus.

Nehmen wir also die Verwirrung, die uns die Oberflächenstruktur der Erzählung bietet, als Durchgangsstadium. Gehen wir also ruhig von einer semiotischen Tiefenstruktur des Textes aus, einer Struktur, die das Erzählen des Erzählens thematisiert. (Erzählt nicht jede große Erzählung vom Erzählen?) Und gehen wir - das ist nun meine Anregung - davon aus, dass es um Namen geht - Rosen kommen im Roman nämlich abgesehen vom Titel und vom lateinischen Schlussvers nicht vor.

Dazu ein Hinweis, den der Text uns schon im Prolog gibt: Der Protagonist der Handlung, William von Baskerville, sei befreundet mit William von Ockham. Bekanntlich ist William (oder Wilhelm) von Ockham eine historische Person, Philosoph, Theologe, Zeichenlogiker, geboren ca. 1285, gestorben 1349 - erinnern wir uns: Die Zeit der Handlung im Rosenroman ist das Jahr 1327. Vom historischen Ockham - der in dieser Zeit gerade Glück hat, dass er, als Franziskaner wegen Ketzereivorwürfen nach Avignon zitiert, um Haaresbreite einer Verurteilung durch Papst Johannes XXII entgeht - können wir allerdings einiges über Namen lernen, mit denen er sich zuvor ausführlich in seiner "Summa Logicae" (1323) befasst hat (3). Und wir können von Ockham auch einen Gestus lernen, der im Umgang mit Ecos Rosenroman angemessen ist. Denn Ockham, der im sogenannten Universalienstreit zwischen Realisten und Nominalisten eine nominalistische Position vertrat (den Kernpunkt des Streits stellt der Prolog des Rosenromans dar), hatte den Abschied vom Adäquationsgedanken, von der Übereinstimmung zwischen Wörtern und Sachen also, in der Philosophie längst vollzogen. Geschriebene Zeichen referieren auf gesprochene Zeichen, die wiederum auf Begriffe in der Seele referieren. Von Dingen erstmal keine Spur, auch wenn die Grammatik der mentalen Sprache natur- oder gottgegeben ist, also eine sprachliche Struktur der Welt darstellt. (Erst sprach Gott, dann wurde Licht.)

Ockham aber behauptet - ketzerisch - weiter: Geschriebene oder ausgesprochene Termini bedeuten etwas qua Setzung oder Konvention. Daher auch könne ein Wort seine Bedeutung durch Übereinkunft stets ändern. In seiner "Summa Logicae" untersucht Ockham dann, gewissermaßen sprachphilosophisch unterschiedliche Namen und unterscheidet "Namen erster und zweiter Namensgebung". Namen erster Namensgebung sind Wörter wie Mensch oder Tier, die Dinge bedeuten, welche selbst keine Zeichen sind. Namen zweiter Namensgebung hingegen sind Wörter wie Name oder Zeit, Wörter also, die auf (konventionell eingesetzte) Zeichen verweisen. Ockham nennt sie auch "Namen der Namen".

Ich schlage vor, das Wort Rose in Ecos Romantitel als Namen zweiter Namensgebung in diesem Sinn zu verstehen. So dass also Rose auf ein Zeichen verweist, dessen Bedeutung wiederum nicht eindeutig, sondern weit verzweigt und interpretationsbedürftig ist. Damit wäre der Titel des Romans eine Chiffre, die nicht auf das Erzählte, sondern auf die Erzählung verweist. Der NAME der Rose wäre ein Zeichen, das auf ein Zeichen verweist, das auf ein Zeichen verweist. Unendliche Semiose, diesen Begriff übernimmt Eco von Charles Sanders Peirce für diese Zeichendynamik. Und hier sind wir dann nicht mehr im Mittelalter, sondern in der modernen Zeichentheorie. Oder sollen wir sagen: in der Postmoderne? Jedenfalls sind viele (post)moderne Gedanken für Ecos Roman entscheidend: Der - erstmals von Roland Barthes beschworene - Tod des Autors, das ekklektizistische postmoderne Konstruktionsprinzip, Ironie als Grundhaltung, Labyrinth und Spur, das Referieren von Zeichen ohne Referenten, Zitat und Co-Text u.v.a.

Fragen wir also nicht, was dieser oder jener Begriff, diese oder jene Gestalt im Roman bedeutet, was also genau bezeichnet wird, indem wir versuchen, das Geschriebene zu vereindeutigen, es gewissermaßen zu übersetzen, sondern fragen wir: Worauf weist es uns hin? Was entdecken wir darin? Sicherlich mehr als ein spätmittelalterliches Szenario; vielmehr eine Geschichte des Erzählens - im doppelten Sinn des Worts "Geschichte". Dann haben wir einen echten Gewinn in unserer Lektüre. Dann verstehen wir mehr, als wenn wir die Frage nach dem Ursprung der Zeichen, nach ihrer eindeutigen Bedeutung stellten.
Es ist viel geschrieben worden zu einer semiotischen Lesart des Romans. Einen hervorragenden Überblick gibt der Sammelband "Zeichen in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose" (4). Wollen wir von der Intention des Autors Eco sprechen, dann wird man sagen können: sich einer eindeutigen Interpretation durch ein komplexes Geflecht von Zeichen zu entziehen, das ist ihm mit seiner Konstruktion gelungen. Denn das muss Eco zufolge ein Roman leisten; er ist "eine Maschine zur Erzeugung von Interpretationen" (5).

Anmerkungen:

1: Louis Mackey: Der Name des Buches. In: Umberto Eco: Der Name der Rose. Die große, erweiterte Ausgabe. Mit Ecos Nachschrift und Kroebers Kommentar. Frankfurt/Main: Zweitausendeins, o.J., S. 1050-1065.
2: Vgl. Umberto Eco: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. Aus dem Italienischen von Heinz-Georg Held. München, Wien 1987.
3: Wilhelm von Ockham: Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, hrsg., übersetzt und kommentiert von Ruedi Imbach. Stuttgart: Reclam, 1984. - Zu den folgenden Zitaten und Paraphrasen vgl. insbes. S. 17-53.
4: Burkhart Kroeber (Hg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose". München, Wien 1987. (Auswahl, übers. von Burkhart Kroeber und Michael Walter, aus: Saggi su Il nome della rosa, hrsg. von Renato Giovannoli. Milano: Bompiani, 1985).
5: Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose. Übers. von Burkhart Kroeber. München 1986, S. 9f.

 

 

 

 

 

Literaturempfehlungen:

Burkhart Kroeber (Hg.): Zeichen in Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose". München, Wien 1987.
Beiträge, die insbesondere die semiotische Lesart von Ecos Roman thematisieren und zahlreiche Hinweise auf Vorlagen, Co-Texte und plausible Interpretationen geben.

Ulf Harendarski, Klaus Gloy: Vom Zeichenlesen. Eco sprachwissenschaftlich kommentiert. Aachen: ein-FACH-verl., 1995.
Hier der Hinweis auf das Kapitel IV: "Die Wahrheit des Ratens: Semiotische Interpretation der Brunellus-Szene", S. 123-149. Ein Beispiel für die Anwendung der Abduktionslogik, also einer hypothetischen Schlussart, auf die "Brunellus-Szene" im Roman.

Thomas A. Sebeok: Give Me Another Horse. In: Reading Eco. An Anthology, hrsg. von Rocco Capozzi. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, 1997, S. 276-282.
Dieser Aufsatz weist auf die Bedeutung der Detektivfigur Sherlock Holmes für die Kriminalerzählung in Ecos Rosenroman hin und zeigt Parallelen zur peirceschen Semiotik auf.

Dieter Mersch: Umberto Eco zur Einführung. Hamburg: Junius, 1993.
Insbesondere die Seiten 13-74 - "Der Name der Rose" als semiotisches Modell - rücken Ecos Rosenroman ein in eine (post)moderne Erzählstrategie und liefern Hintergründe zur Semiotik.