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Umberto Ecos Interpretationssemiotik
und ihre erkenntnistheoretischen Sollbruchstellen*

Seit Ecos Buch "Die Grenzen der Interpretation" (1990) ist der Streit um die Interpretationssemiotik, der in den 1990er Jahren die Bemühungen um eine stringente Theorie des Textes und dessen Interpretation begleitete, zwar etwas abgeklungen, hat allerdings neuen Auftrieb erhalten durch das jüngste Buch des Italieners in Sachen Theorie der Semiotik. "Kant und das Schnabeltier" ist im italienischen Original bereits 1997 erschienen und liegt seit Mitte 2001 in deutscher Übersetzung vor. Werden hier lediglich vereinzelte Korrekturen und Neuakzentuierungen vorgenommen oder liegt die Interpretationssemiotik in nun veränderter Theoriegestalt vor? Was Eco in seinem jüngsten Buch thematisiert, weist Parallelen zu jenem Streit um die Textinterpretation auf, die durch "Die Grenzen der Interpretation" ausgelöst worden ist.

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Um diesen Streit nachzuvollziehen, ist es erforderlich, etwas genauer die Entwicklung und Eigenarten der ecoschen Semiotik zu betrachten. Deren Grundlagen liefern einerseits Ecos frühe Ästhetik - der Themenbereich Kunst und Kommunikation, den Eco in seinem Buch "Das offene Kunstwerk" dargelegt hat -; andererseits die Problematik einer Theorie der Textinterpretation, mit der sich Eco nicht erst in den neunziger, sondern bereits seit den frühen siebziger Jahren ausführlich befasst hat. Dabei ist stets der Bezug zur allgemeinen Semiotik zu beachten, die Eco in seinem Standardwerk "A Theory of Semiotics" von 1975 grundgelegt hat, und es sind schließlich die systematischen Neuakzentuierungen einzuordnen und zu bewerten, die mit "Kant und das Schnabeltier" - insbesondere durch den Begriff des "kognitiven Typus" - in die Theoriearchitektur der allgemeinen Semiotik eingebracht worden sind.

 

1. Entwicklung und Eigenarten der ecoschen Semiotik


Ich möchte also den Streit um Ecos Konzeption der Textinterpretation im Gesamtzusammenhang seiner Semiotik verstanden wissen. Und ich möchte, weil es mir um die theoretischen Grundlagen der Semiotik geht, ausdrücklich die frühe Ästhetik des offenen Kunstwerks mit in diese Betrachtung einbeziehen. Eine Synopse der semiotischen Hauptarbeiten Ecos ergibt über einen Zeitraum von immerhin 35 Jahren hinweg drei Schwerpunktphasen: Ästhetik, allgemeine Semiotik, Textpragmatik. Nebenstehende Übersicht sollte nicht als Bibliographie missverstanden werden, sondern lediglich als Auswahl der wichtigsten Werke zur Semiotik, die ich im Folgenden explizit oder implizit zur Beurteilung der Textpragmatik heranziehen werde.
 

Eco Bibliografie

Übersicht über die maßgeblichen Arbeiten Ecos zur Semiotik, nach Schaffensbereichen und chronologisch gegliedert.


Zum Begriff Interpretationssemiotik eine kurze Anmerkung. Ich möchte hier nicht ausführlich zeigen, weshalb man Ecos Semiotik zu Recht als Interpretationssemiotik bezeichnet (vgl. dazu genauer: Schalk 2000). Nur soviel: Die Interpretationssemiotik fragt nicht primär, was ein Zeichen bedeutet beziehungsweise für welches Objekt es steht, sondern wie dieses Zeichen interpretiert wird. In der Kunst, in der Literatur, in der Medizin, in der Werbung, in allen Kulturbereichen. Kommunizieren ist Interpretieren. Wenn diese Interpretationssemiotik zugleich noch Kultursemiotik ist, fragt sie nach der Abhängigkeit der Interpretationen eines Zeichens von kulturellen Rahmenbedingungen. Codes, Signifikationsmechanismen, die Einfluss auf den Prozess der Semiose nehmen. Ecos Interpretationssemiotik ist daher zugleich Kultursemiotik - in einem methodologischen Sinne. Anders als die (ehemals sowjet-)russischen Semiotiker, anders als beispielsweise Walter Koch oder John Deely lässt sich Eco auf eine Differenz zwischen natürlichen und artifiziellen Zeichen erst gar nicht ein. Und auch die peircesche Differenzierung zwischen ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen akzeptiert Eco nicht. Für die Interpretationssemiotik ist jedes Zeichen symbolisch, insofern die Notwendigkeiten, ein Etwas als etwas zu interpretieren, je spezifisch kultureller Natur sind. So suggeriert beispielsweise der Satz "Feuer löst Rauch aus" eine objektive Kausalbeziehung, die Ecos Semiotik hinsichtlich der kulturellen Notwendigkeiten, diese Interpretation vorzunehmen, hinterfragt: Weshalb interpretieren wir Rauch als Folge von Feuer? Daher ist Ecos Semiotik im Kern Pragmatik, wenn sie auch semantische und syntaktische Fragestellung und eine Synopse kultureller Codes nicht ausspart.

   


Die für die Grundlegung der allgemeinen Semiotik entscheidende Frage ist daher: Wie und warum interpretieren wir etwas als etwas? Insofern ist das Fundament der allgemeinen Semiotik eine ins Zeichentheoretische transformierte Erkenntnisproblematik. Die Antwort der Interpretationssemiotik lautet: Wir interpretieren Zeichen vor dem Hintergrund unserer kulturellen Kompetenz. Weniger entscheidend für diese Zugangsweise zu der komplexen Relation Zeichen/Objekt/Interpretation ist für Ecos Semiotik die Relation, die Charles William Morris als "Semantik" bezeichnete: die Relation zwischen Zeichenträger und Objekt. Entscheidend vielmehr ist die Relation zwischen Zeichenträger und Interpretation. Um Morris‘ Differenzierung erneut zu bemühen, die "Pragmatik". Dennoch kommt auch Ecos Interpretationssemiotik nicht umhin, zur Relation Interpretation/Objekt Stellung zu beziehen. Sind Objekte da vor aller Interpretation, und wie lässt sich dies erkenntnistheoretisch behaupten, wenn wir die Objekte nur vermittels Interpretation erfassen können? Es stellt sich also die Frage nach der ontologischen Fundierung der Interpretationssemiotik - eine Frage, die in "Kant und das Schnabeltier" aufgegriffen wird. Und es wird deutlich, dass es sich tatsächlich um eine Frage der Fundierung der Semiotik handelt. Denn die Relation zwischen Zeichen, Objekt und Zeichenbenutzer - kurz, die Zeichen-Funktion - betrifft eine allgemeine Semiotik ebenso wie angewandte Semiotiken: sei es in der Ästhetik, in der Literaturtheorie, in der Musik, der Werbung oder in einem beliebigen anderen Anwendungsbereich.

 

2. Kunst und Kommunikation


Ecos Thesen aus seiner frühen Ästhetik "Das offene Kunstwerk" sind bekannt: Kunstwerke sind offen für unterschiedliche, mitunter divergierende Interpretationen. Rezipienten sind Interpreten. Kunstwerke werden als Kunstwerke - als funktionelle Formen - vollendet erst in einem Prozess der Interpretation. Es wäre daher reduktionistisch, wenn sich die Ästhetik allein auf die Strukturanalyse von Kunstwerken beschränkte. Sie muss vielmehr den Rezeptionsprozess Kunst untersuchen und klären, in welcher Weise Rezipienten am Prozess ästhetischer Kommunikation beteiligt sind. Schon Ecos frühe Ästhetik ist daher im Kern Pragmatik. Sie richtet den Blick auf Kommunikationssituationen und will nicht etwa eine Ontologie des Kunstwerks aufrichten. Im Gegenteil: Die Kritik an jeglichen ontologischen Begründungen macht Ecos theoretischen Impetus - auch später noch in "La struttura assente" - aus.


Bekanntlich operiert Eco in der Ästhetik mit der Differenz von offenen und geschlossenen Kunstwerken. So soll einerseits - in diachroner Perspektive - moderne von klassischer Kunst abgegrenzt werden. Andererseits - in synchroner Perspektive - soll die Offenheit der modernen Kunst für vielfältige, auch divergierende Interpretationen als besonderes Qualitätsmerkmal herausgestellt werden. Hier wir auch ein Qualitätskriterium markiert, das Abgrenzungen wie die zwischen Kunst und Kitsch erlaubt. Ästhetisch minderwertige Kunstwerke sind hochgradig "geschlossen". Sie lassen kaum Interpretationsspielraum, sondern sind ästhetisch explizit. Sie schließen sich gegenüber einer interpretierenden Vervollständigung oder Vollendung ab. Anders hingegen jene modernen offenen Kunstwerke, die ihre Rezeptionssituation reflektieren und sich dem ästhetischen Spiel der Interpretation bewusst öffnen. Eco nennt diese Kunstwerke "Kunstwerke in Bewegung". Deren Offenheit und Einbeziehung des Interpreten in den ästhetischen Kommunikationsprozess ist Resultat eines reflektierten Produktionsprozesses. Bereits in der Produktion wird die Funktion des Rezipienten bedacht. Die interpretative Mitwirkung an der Vollendung des Werks führt zu einer besonderen Strukturgestalt des jeweiligen Kunstwerks, das sich durch "strukturelle Mehrdeutigkeit" je unterschiedlichen Interpretationen öffnet. Eco nennt diese Struktureigenheit moderner Kunstwerke in Bewegung "Offenheit zweiten Grades". Denn "Offenheit" ist zunächst ein prinzipielles Merkmal aller Kunstwerke - genauer: ein Merkmal der Rezeptionssituation. Kunstwerke und eine "konstitutive Aktivität des Subjekts" greifen ineinander und konstituieren eine ästhetische Erfahrung. In diesem Sinne ist jedes Kunstwerk "offen". Die Offenheit moderner Kunstwerke in Bewegung allerdings - auch "Ambiguität" genannt - setzt voraus, dass das Werk zusätzlich eine strukturell manifeste Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten anbietet.


Exemplarisch lässt sich diese Öffnung der Kunst auf ihre Interpretation hin an den Maschinenskulpturen Jean Tinguelys zeigen. Da es sich durchweg um bewegliche Plastiken handelt, die zum Großteil vom Betrachter selbst bewegt werden können, sind sie in besonderem Maße Beispiel für jene Kunstwerke in Bewegung, die für Eco Paradigma der modernen Ästhetik sind.

 

   Tinguely Balouba Nr. 3

Aus der Reihe der Baloubas, die auch auf Anregung von Niki de Saint Phalle in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren entstanden, habe ich die Balouba Nr. 3 ausgewählt, da es sich hierbei nicht nur um ein bewegtes, sondern zudem um ein multimediales Kunstwerk handelt. Durch einen Elektromotor in eine Schüttelbewegung versetzt, symbolisiert die Plastik die Tänze einer kenianischen Eingeborenenstamms und erzeugt dabei rasselnde und klappernde Laute. - Nur am Rande sei bemerkt, dass hier auch auf humorvolle Weise eine Kritik an der modernen Mobilitätsgesellschaft zum Ausdruck gebracht wird. Maschinen, die nichts Sinnvolles produzieren, sondern deren Bewegungen ästhetischer Selbstzweck sind, stellen komplexe Metaphern dar, die ironisch auf moderne industrielle Gesellschaften referieren.

 
  An dem "Golem", den Tinguely zusammen mit Niki de Saint Phalle und Rico Weber für einen Kinderspielplatz in Jerusalem gestaltet hat, wird die Öffnung der Kunst hin auf die Interpretation auf doppelte Weise deutlich. Zum einen interpretieren spielende Kinder die Plastik je neu, zum anderen stellt sich die Plastik dem Betrachter je anders dar. Das Kunstwerk bewegt sich nicht selbst, es wird bewegt, in Bewegung versetzt und so - spielend - verändert. Tinguely Golem
  


So einleuchtend Ecos Thesen zur modernen Kunst zunächst erscheinen, so virulent sind die mit dieser Erklärung verbundenen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten. Das Problem, das für die (bereits im Ansatz semiotische) Ästhetik entsteht, ist die schlichte Tatsache, dass Eco die Offenheit der Kunst sowohl den Struktureigenarten der Werke als auch dem Rezeptionsprozess zurechnet. Eco ist weder Anhänger eines Strukturalismus‘, der objektiv analysierbare Tiefenstrukturen beschreibt, noch ist er für eine tatsächlich radikale Veränderung des Blickwinkels hin zum Rezeptionsprozess. Denn von hier aus wäre es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Kontextualisierung der Bedeutung: Kunstwerke wären Relikte, Exponate, Ärgernisse, Schmuck usw., und es wäre insgesamt unklar, wie eine Differenz zwischen Kunst und Nicht-Kunst noch aufrecht zu erhalten sein sollte. Literarische Texte etwa wären, um den berühmten Titel von Stanley Fish "Is There a Text in This Class?" zu zitieren, eben nicht "in this class", sondern nur da in dem Sinn, dass man sich innerhalb eines Interpretationsdiskurses in gewisser und je anderer Weise über sie verständigt. Das Dilemma, vor dem Eco bereits in "Das offene Kunstwerk" steht, ist klar: Entweder ist ein Kunstwerk in einer bestimmten Weise da vor aller Rezeption - und das heißt: Interpretation - oder es entsteht im Moment der Interpretation, je anders.


Eco beschreitet einen "dialektisch" genannten Ausweg aus dem Dilemma. Eine "Dialektik zwischen Offenheit und Form" schwebt ihm vor. Durch den Rückgriff auf einen phänomenologischen Gegenstandsbegriff, durch den Anleihen bei Husserl, Sartre und bei Merleau-Pontys "Phänomenologie der Wahrnehmung" wird deutlich, was Eco will: Offenheit begründen, ohne die Form aufzugeben. Rezeptionsprozesse beschreiben, ohne auf den Begriff Struktur zu verzichten. Offenheit ja, Beliebigkeit und Willkür der Interpretation nein.

   


Diese Grundorientierung übernimmt Eco in die Theoriearchitektur seiner allgemeinen Semiotik. Dies zeigt sich allein an der dialektischen Korrelation zwischen den beiden Großbereichen Signifikation und Kommunikation, die in seinem Hauptwerk, dem "Trattato" vorgenommen wird: Und er übernimmt ebenfalls die Problematik der Objektpermanenz, die die Interpretationssemiotik allerdings vorerst mit Hilfe der peirceschen Differenzierung zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt in den Griff bekommt. Als dynamisches Objekt gibt es ein Etwas vor aller Interpretation hier und jetzt. Allerdings nur in transzendenter Weise, insofern sich das unbestimmte Etwas mit jeder Bestimmung zugleich verflüchtigt. Eigentlich - könnte man überspitzt sagen - gibt es das dynamische Objekt nur, um eine Theorielücke der allgemeinen Semiotik zu schließen. Hier zeigt sich deutlich, dass die Semiotik, wie Eco sie im Anschluss an Peirce prägt, ihre Anleihen an die kritische Philosophie Kants nicht verbergen kann. Das dynamische Objekt hat denselben Theoriestatus wie Kants Ding an sich. Ein Etwas vor aller Bestimmung ist ein bestimmtes Unbestimmtes, das nur idealiter angenommen werden kann und muss. Mit jeder konkreten Bestimmung ist das dynamische Objekt als solches nicht mehr bestimmbar.

 

3. Textinterpretation


Mit der Veröffentlichung von "Die Grenzen der Interpretation" (Originalausgabe 1990; erste deutsche Ausgabe 1992) kam es zu einem heftigen Theoriestreit um Ecos Interpretationssemiotik - ausgelöst durch Präzisierungen und Neuakzentuierungen Ecos zu seiner Textpragmatik. Von wem auch die Kritik stammte, man war sich einig, dass es eine objektiv greifbare und eindeutig richtige Bedeutung eines Textes nicht geben könne. Jonathan Culler, Richard Rorty, Jacques Derrida und zahlreiche Vertreter aus dem Lager der empirischen Literaturwissenschaft konstatierten eine Kehre Ecos. Dieser Streit betraf nicht nur die Textpragmatik, sondern wurde ausgeweitet auf die Theoriearchitektur der Interpretationssemiotik insgesamt. Vom innovativen Mitbegründer der Freiheit der Interpretation gegenüber der Werktreue sei Eco nun ins Lager der konservativen Verfechter der einen, "richtigen" Interpretation konvertiert. Die Kritik - allen voran Richard Rorty - stellte es so dar: Es gebe den frühen Eco des offenen Kunstwerks und den späten Eco der "Grenzen der Interpretation".


Wir haben bereits gesehen, dass diese Einschätzung zu pauschal ist. Auch in "Das offene Kunstwerk" war der Werkbegriff nicht zugunsten beliebiger Interpretierbarkeit aufgelöst worden. Beinahe möchte man sagen: im Gegenteil. Die Öffnung des ästhetischen Kommunikationsprozesses für die mitunter divergierenden Interpretationen der Kunstrezipienten betraf zudem ja nur jene Kunstwerke, die Eco "Kunstwerke in Bewegung" nannte. Nochmals: Insgesamt trat Eco bei aller Offenheit für eine den Struktureigenarten des jeweiligen Kunstwerks angemessene Interpretation ein. Ob offen oder geschlossen. Gleiches gilt auch für die Textinterpretation.


Nur in stark verknappter Form Ecos Position: Bereits im offenen Kunstwerk war der Prozess der literarischen Kommunikation ansatzweise mittels einer Modellrollenkonzeption beschrieben worden. Eco bezog sich auf Joyce, der in "Finnegans Wake" einen "idealen Leser" erwogen hatte. Einen "idealen Leser, der an idealer Schlaflosigkeit leidet", und nur ein solcher wäre in der Lage, alle Bedeutungen des Romans gleichzeitig zu erfassen. Vor allem in "Lektor in fabula" (1979) hat Eco die Modellrollenkonzeption ausgebaut. "Ein Text will, daß ihm jemand dazu verhilft zu funktionieren." (LF, 64) Texte supponieren Modell-Leser, die durch ihre Interpretationstätigkeit textuell angelegte Strukturen realisieren, denn sie sind - wie Eco gelegentlich etwas salopp sagt - faule Maschinen zur Erzeugung von Interpretationen. Dabei stellen diese Modell-Leser gelegentlich auch Vermutungen über die Autoren dieser Texte an. Sie erschaffen im Prozess der Interpretation Modell-Autoren, exemplarische Autoren auf Basis gegebener Textinformation. Den Begriff der Interpretation versteht Eco dabei nicht als literaturwissenschaftliche Methode im engeren Sinne, sondern allgemeiner als Beschreibung der Lektüretätigkeit. Lesen ist Interpretieren. Und explizit nennt Eco bereits in "Lektor in fabula" - also 1979 - die Grenzen dessen, was man als Interpretation bezeichnen sollte. Ich paraphrasiere aus Kapitel 9.3: "Interpretation" ist Mitarbeit an der Verwirklichung von Textstrukturen, "Gebrauch" oder "Verwendung" dagegen sind unzulässige Fehldeutungen von Zeichen oder haltlose Unterstellungen von angeblich nachweisbaren Autorintentionen.


Und dies sind auch im Wesentlichen die Grenzen der Interpretation, die Eco in seinem gleichnamigen Buch gut 10 Jahre später vertritt und die den soeben kurz skizzierten Streit ausgelöst haben. Hinzu tritt, dass Eco den Prozess der Textinterpretation auf die Ermittlung und Beschreibung der intentio operis, der Textintention, einschränken möchte. Weder die Autorintention (intentio auctoris) noch die Leserintention (intentio lectoris) könne legitimes Ziel der Textinterpretation sein. Eco grenzt die Interpretation also gegen zwei für ihn unzulässige - "Gebrauch" oder "Fehlinterpretation" genannte - Verfahren ab: 1. Das Dekonstruieren eines Textes, 2. die Suche nach der Autorintention, einen psychologistischen Interpretationsansatz. Eco will sich für einen sorgfältigen, an den Struktureigenarten orientierten Umgang mit dem Text stark machen. Dazu gehören die Ermittlung eines "wörtlichen Sinns", das Befolgen von vorliegenden Textstrukturen im Sinne einer semantischen Aktualisierung und ein interpretierendes Sich-annähern an die intentio operis beziehungsweise deren Kritik. Bekanntlich geht es Eco nicht darum, eine explizite Methode zur Interpretation literarischer Texte zu entwickeln, sondern vielmehr um ein Falsifikationsprinzip für Fehlinterpretationen. Problematisch allerdings ist dabei, dass Eco von jeher einen sehr weiten Interpretationsbegriff gebraucht, der sich nur sehr schwer mit Blick auf eine normative Differenz von richtigen und falschen Interpretationen einschränken lässt. Wie anders als durch Interpretation soll denn der wörtliche Sinn eines Textes ermittelt werden? Er kann der Interpretation also nicht vorausgehen, sondern ist vielmehr Ergebnis derselben. Was bleibt, ist daher ein regulatives Prinzip der Textinterpretation: Leserinnen und Leser sollen sich beim Umgang mit literarischen Texten sorgfältig mit diesen befassen, sollen versuchen, Konstruktionsstrukturen aufzufinden und zu beschreiben.


Diese Präzisierungen und Neuakzentuierungen der Textpragmatik sind primär gegen die Dekonstruktion gerichtet. Semiotisch unzulässig ist diese für Eco deshalb, weil ein semiotischer Reduktionismus um jeden Preis vermieden werden soll: Das dreiwertiges Zeichenmodell darf nicht um die Relation Zeichenträger/Objekt verkürzt werden. Semiotisch betrachtet reduktionistisch ist auch die Suche nach der Autorintention, wenngleich dieser Verzicht ebenfalls problematisch ist: Bekanntlich hat Eco in den 1970er Jahren Autoren und Leser als reale Personen aus dem Prozess der literarischen Kommunikation verbannt. Ich erinnere hier nur an das augenzwinkernde Diktum aus dem "Nachwort zum Namen der Rose": "Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört." (S. 14) Nun hat Eco selbst aber nicht einen, sondern inzwischen vier Romane geschrieben, was ihm durch die konsequente Befolgung seines Diktums wohl nicht möglich gewesen wäre. Und bedenkenswert ist auch, dass dieses Zitat ausgerechnet aus einem Buch stammt, in dem Eco ausführlich Stellung zu seinem ersten berühmten Roman nimmt. So einfach scheinen also der Verzicht auf den Autor und seine Intention offensichtlich nicht zu sein. Rocco Capozzi, Herausgeber des Sammelbandes "Reading Eco" (Indiana University Press, 1997), hat auf die zahlreichen Stellen in Ecos Werken aufmerksam gemacht, an denen Eco selbst Texte interpretiert. Auffällig ist, wie häufig dann Bezüge zu den Intentionen der Autoren hergestellt werden. Ich zitiere nur ein Beispiel - und zwar signifikanterweise aus "Die Grenzen der Interpretation":


"Wenn Agatha Christie in The murder of Roger Ackroyd einen Erzähler sprechen läßt, der sich zuletzt als der Mörder herausstellt, so verleitet sie den naiven Leser dazu, zunächst andere zu verdächtigen. Wenn aber der Erzähler am Schluß dazu auffordert, seinen Text nochmals durchzulesen, um zu enthüllen, daß er sein Verbrechen eigentlich nicht verborgen, sondern daß der naive Leser nur nicht auf seine Worte geachtet hatte: in diesem Fall fordert die Autorin den kritischen Leser dazu auf, die Geschicklichkeit zu bewundern, mit der der Text den naiven Leser in die Irre führte".


Eco weiß durchaus, dass hier intentio auctoris und intentio operis zusammenfallen und bestätigt dies explizit wenige Seiten später. Autor- und Textintention sind identisch - als hypothetische Unterstellungen eines Modell-Lesers, der sich einen Modell-Autor vorstellt. Was bleibt, ist letztlich nur die Differenz zwischen Autoren als empirische Personen und als Modell-Entwürfen. Und es bleibt das erwähnte regulative Prinzip der Textinterpretation.


Abschließend komme ich kurz zurück auf die anfangs formulierte Grundsatzproblematik: Sind Objekte da vor aller Interpretation? Mit seinem jüngsten Buch zur Semiotik knüpft Eco an die Problematik der Textinterpretation an und erweitert das Begriffsinventar der allgemeinen Semiotik um den Begriff des "kognitiven Typus" (KT). Man müsse einen Bereich des Präsemiotischen annehmen, zu dem unbekannte und nicht klassifizierbare Objekte zählen. Ecos Beispiel: Wie kommunizierten die Azteken über die für sie fremden Tiere - Pferde -, die die spanischen Konquistadoren bei der Eroberung mitbrachten? Antwort: Es bildet sich ein kognitiver Typus - unter Rückgriff auf bereits vorhandene Erfahrungen. Mit Kant und das Schnabeltier nimmt der Italiener die Probleme der erkenntnistheoretischen Fundierung seiner Kultursemiotik erneut auf und besucht einige alte "Baustellen". Im Zentrum des neuen Buchs in Sachen Grundlegung der Semiotik steht das Objekt, das Etwas vor aller semiotischen Bestimmung zum "Als-etwas". Gegenstände außerhalb zeichenhafter Repräsentation kannte Ecos Semiotik bislang - gemeint ist der Theoriebestand seit dem Trattato von 1975 - mit Peirce wie dargestellt nur als "dynamische Objekte", d. h. als unbestimmte Auslöser von Signifikationsprozessen. Um dies nochmals zu verdeutlichen: Nüchtern auf den theoretischen Grundbestand gekürzt, sind dies die kantischen "Dinge an sich", denn mit jeder Bezeichnung wird ein Etwas bereits zum Als-etwas, ist Ding für uns. Das Etwas vor aller Bezeichnung kann daher selbst nicht bezeichnet werden - es sei denn als bestimmtes Unbestimmtes. Diese theoriesystematisch notwendige Leerstelle der Semiotik bestimmt Eco in "Kant und das Schnabeltier" neu und anders. Reale Gegenstände lösen "Akte der Aufmerksamkeit" aus, die wiederum Anlass zu weiteren zeichenhaften Bestimmungen geben. Es muss demnach ein Etwas geben, das sich auf einer präsemiotischen Ebene vor allem anderen abzeichnet, um bezeichnet werden zu können. Dass Eco hier gewissermaßen eine phänomenologische Position einnimmt, verwundert nicht weiter. Bereits in seiner frühen Ästhetik waren phänomenologische Anleihen bei Husserl, Sartre und Merleau-Ponty expliziert worden. Der Gegenstandsbegriff, den die Ästhetik offener Kunstwerke postulierte, war ein von Husserl gewonnener, genuin phänomenologischer. Die Theorie des offenen Kunstwerks musste schließlich erkenntnistheoretisch klären, wie dasselbe Kunstwerk in wechselnden Rezeptionen immer anders interpretiert werden kann, ohne aufzuhören, die eine ästhetische Form zu sein.

   


Während man die vorgebliche Kehre Ecos in der Textpragmatik genauer als Neuakzentuierung verstehen sollte, führt Eco die Problematik der Objektpermanenz zu einer nicht unbedeutenden Korrektur an der Theoriegestalt seiner allgemeinen Semiotik. Denn bislang reichte es an dieser Systemstelle aus, mit dem aus der peirceschen Semiotik gewonnenen Begriffspaar Exemplar/Gattung (token/type) zu operieren. Die Entstehung von Neuem ließ sich durch Rückgriff auf die peirceschen Ausführungen zur Abduktion erklären, die Eco bekanntlich systematisiert und erweitert hat.** Stark verkürzt: Wenn keine Regel zur Erklärung eines Falls vorliegt, muss sie abduktiv - man könnte auch sagen: hypothetisch vermutend - aufgefunden oder erfunden werden. Nun setzt Eco sich semiotisch mit dem Problem der Wahrnehmung auseinander und ist bereit, über Objekte als Gegenstände vor aller Erfahrung zu sprechen. Auch hier geht Eco wieder zurück zu den Grundgedanken aus "Das offene Kunstwerk", und er geht zurück zu den phänomenologischen Grundlagen seiner Semiotik.

Bochum, September 2001

 

Anmerkungen:


Vortrag Universität Essen, Kommunikationswissenschaftliches Kolloquium, SS 2000.

** Vgl. zur Abduktionsproblematik bei Eco und Peirce ausführlicher: Helge Schalk: Tatsache und Erfahrung: Zur Theorie abduktiven Schließens. In: Urteilskraft und Heuristik in den Wissenschaften, hrsg. von Frithjof Rodi. Weilerswist: Velbrück, 2003, S. 73-91.

   

 

Literatur:

Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1972 (Opera aperta. Milano 1962).
Eco, Umberto: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. 2., korrigierte Aufl. München 1991.
Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München, Wien 1992 (I limiti dell'interpretazione. Milano 1990).
Eco, Umberto: Kant und das Schnabeltier. Aus dem Italienischen von Frank Herrmann. München, Wien 2000 (Kant e l’ornitorinco. Milano 1997).
Peirce, Charles Sanders: Collected Papers. 8 Bde. Bde. 1-4, hrsg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss. Cambridge/Mass. 1931-1935. 2. Aufl. in drei Bdn. 1960. Bde. 7-8, hrsg. von Arthur W. Burks. Cambridge/Mass., London 1958.
Peirce, Charles Sanders: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg. von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M. 1991.
Peirce, Charles Sanders: Semiotische Schriften. Bd. I, hrsg. Von Christian J. Kloesel und Helmut Pape. Frankfurt/Main, 2000.
Schalk, Helge: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 2000.
Schalk, Helge: Semiotik als Kulturtheorie bei Umberto Eco. In: KODIKAS/CODE Ars Semeiotica 21 (Nr. 1/2 1998), S. 129-142.
Schönrich, Gerhard: Zeichenhandeln: Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce. Frankfurt/Main 1990.