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Pluralität und Symbolisierung
Grundgedanken der modernen Philosophie

 

      

Für die Philosophie der Moderne sind zwei gedankliche Hauptmomente charakteristisch, und sie betreffen eine Transformation der traditionellen Erkenntnistheorie, die häufig mit der Formel adaequatio intellectus in rem umschrieben wird. Transformiert, und dies heißt zugleich überwunden, wird eine Ontologie der Präsenz, die von der Möglichkeit einer adäquaten begrifflichen Repräsentation des Erfahrungsgegenstands ausgeht. In der Moderne erst rücken zwischen die Dinge und deren begriffliche Erkenntnis Zeichen; die Gegenstände der Erfahrung können daher nur bestimmt werden, insofern sie Elemente eines trirelational strukturierten Repräsentationsprozesses sind: Gegenstand, Zeichen, Zeichenbenutzer. Damit verlagert sich das Problem der Bedeutung von der Klärung der Eigenarten der Gegenstände auf die Klärung der Eigenarten des Repräsentationsprozesses. Gelenkstelle des Repräsentationsprozesses ist dessen Medium, das Zeichen. Von hier aus ergeben sich grundsätzlich zwei unterschiedliche analytische Zugangsweisen: Der Prozeß der Repräsentation läßt sich vom Gegenstand zum Zeichenbenutzer oder umgekehrt vom Zeichenbenutzer zum Gegenstand betrachten. Erstere Betrachtungsweise kennzeichnet traditionelle Zeichentheorien, die eine Kausalrelation zum Modellfall von Zeichenbeziehungen machen; die Bedeutung eines Zeichens erschließt sich vom bezeichneten Gegenstand her, in der Weise, wie sich – beispielsweise – die Bedeutung von Rauch als Resultat der Ursache Feuer erklärt. Man spricht von der Motiviertheit eines Zeichens durch sein Objekt – ein Gedanke, mit dem erst Saussures Semiologie endgültig bricht und an die Stelle der Motivation konsequent die Arbitraritätder Zeichen setzt. Zuvor bereits fragte die moderne Zeichentheorie mit Peirce nach der Bedeutung eines Zeichens vom Zeichenbenutzer aus und erkundete damit die Ursachen der Kausalrelation bzw. der Motiviertheit selbst. Der Gegenstand erscheint als Resultat einer Analyse des Zeichenprozesses nicht jenseits seiner vielfältigen Verwendungsweisen in unterschiedlichen Bezeichnungsprozessen, sondern nur in Abhängigkeit von diesen. Damit geht Peirce bereits über eine strukturalistische Zeichentheorie hinaus, die Bedeutung als Spiel von Differenzen allein auf der Ebene des Zeichensystems zu erklären versucht und nimmt den Zeicheninterpreten als konstitutives Element der Bedeutungsgenerierung in dem Blick.


Eng verbunden mit dieser Gedankenfigur, die erst für die Philosophie der Moderne selbstverständlich wird, ist das Denken der Pluralität. Verlagert sich die erkenntnistheoretische Analyse von den Gegenständen hin zu den Eigenarten ihrer Repräsentation, dann ist anzuerkennen, daß die Struktur der Repräsentation einer kulturellen, sprachlichen, historischen Differenzierungsbewegung unterliegt: Die Bedeutung eines Gegenstandes entspringt nicht aus diesem selbst, sondern sie entsteht mit dem Prozeß der Repräsentation. Die Erfahrung verändert den Gegenstand der Erfahrung – bedingt durch den jeweiligen Modus der Repräsentation. Die Analyse des Repräsentationsprozesses führt auf strukturelle und systemische Korrelate, deren kulturelle und historische Differenz augenfällig wird. Ging die kritische Philosophie Kants von einer Differenz zwischen sinnlicher und intelligibler Erfahrung aus, versuchte die idealistische Tradition, Erfahrungsprozesse monistisch in einem ursprünglichen Setzungsakt des Subjekts zu verankern, löst die Philosophie der Moderne – etwa Husserl und Cassirer – Erfahrung in einen dialektischen Prozeß auf, der zwischen Gegenstand und Subjekt der Erfahrung einerseits, zwischen System und Prozeß der Repräsentation andererseits oszilliert. Ein Modell der Erfahrung von Wirklichkeit, wie Cassirer es in seiner Philosophie der symbolischen Formen skizziert, weist die Differenz zwischen sinnlicher und intelligibler Erfahrung zurück, da es innerhalb unterschiedlicher symbolischer Formen je zu einer Synthese kommt. Cassirers Transformation der kantischen Vernunftkritik in eine "Kritik der Kultur" hebt nicht nur den Einfluß historisch wandelbarer Kulturbereiche auf den so erzeugten ,Sinn‘ der phänomenalen Welt hervor, sondern synthetisiert auch die Formen sinnlicher Wahrnehmung und deren sinnhafte Strukturierung gemäß kulturell bedingter Wahrnehmungsmodi zu einer untrennbar verbundenen Einheit aus dem Was und dem Wie der Erfahrung. Ebenso geht Husserls Phänomenologie von einem – allerdings weniger systemisch, sondern vielmehr intentional strukturierten – Erfahrungsprozeß aus, für den die "Zweiheit von Noesis und Noema" charakteristisch ist.[1] Auch hier: eine Synthese zwischen dem Was und dem Wie der Erfahrung, ein Modell, das den Grundwiderspruch der traditionellen Erkenntnistheorie – Subjekt und Objekt der Erfahrung – nicht auflöst, sondern als konstitutiv für Erfahrungsprozesse anerkennt.


Solcherlei Korrelation zwischen den zwei Grundfiguren der modernen Philosophie, Symbolisierung und Pluralität, legt den Schluß nahe, erst der Symbolisierungsgedanke habe das Denken der Pluralität ermöglicht. In der Tat aber ergibt die Untersuchung der Genese modernen Denkens einen umgekehrten Befund: Das Denken der Pluralität von Bedeutungskontexten erst führt zu jener umfassenden Transformation der Erkenntnistheorie, die sich mit dem Schlagwort der Symbolisierung fassen läßt. Mitte des 19. Jahrhunderts prägten die amerikanischen Logiker De Morgan und Boole den Begriff universe of discourse, an dem sich die Genese beider Gedankenfiguren nachzeichnen läßt, deren Rezeption über den amerikanischen Pragmatismus und über Cassirers Symboltheorie bis in die moderne Sprachwissenschaft und Semiotik reicht.[2] Der entscheidende Impuls, den die Logik für das pluralistische Denken lieferte, ist darin zu sehen, daß die Bedeutung eines sprachlichen oder gedanklichen Ausdrucks in Korrelation zu seinem Äußerungskontext gesehen wird. Mit Hilfe der logischen Formalsprache analysieren Boole und auch De Morgan, daß das kontextuelle Element des Repräsentationsprozesses – das jeweilige universe of discourse – für die Genese der Bedeutung eines Ausdrucks entscheidend ist. Je nach Äußerungskontext – so simpel und selbstverständlich dies heute scheint, so folgenreich war es jedoch – ändert sich die Bedeutung eines Ausdrucks. Peirce greift diesen Gedanken auf und zieht in der Zeichentheorie die Konsequenzen aus der Kontextualisierung der Bedeutung: Wenn der Bezug eines Zeichens zu dem bezeichneten Objekt nur einen Aspekt der Zeichenbeziehung ausmacht, dann muß die Zeichentheorie auch die Relation zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer in den Blick nehmen. Morris wird diese Dimension der Semiotik später "Pragmatik" nennen – Peirce spricht noch von "spekulativer Rhetorik"; ein Ausdruck, der sich in der Zeichentheorie nicht durchgesetzt hat.


Der Pluralisierungsgedanke hat Auswirkungen sowohl auf die theoretische als auch auf die praktische Philosophie. In der Erkenntnis- und Zeichentheorie sowie in der Logik wird versucht, eine einheitliche Basis von Repräsentationsprozessen zu skizzieren – Peirce hat sie in der Semiotik grundgelegt, Cassirer in der Symboltheorie seiner Philosophie der symbolischen Formen. Die praktische Philosophie reagiert auf den Pluralisierungsgedanken mit einem Konsensualismus, der ebenfalls in der Peirceschen Zeichentheorie grundgelegt ist und von Mead, Morris und später Habermas zu einem Diskursmodell der Verständigung umgeformt wird. Universell ist in der theoretischen Philosophie die logische Formelsprache, mit der der Nachweis der Pluralität von Bedeutungsfeldern geführt wird; in der praktischen Philosophie ist es die Universalität der Rationalität, die Übergänge zwischen den kulturell differenten Diskursbereichen herzustellen vermag.


In der Peirceschen Semiotik wird die Pluralisierung von Repräsentationsprozessen mit einem Konsensmodell der Erfahrung verknüpft, in dem man gelegentlich Überreste eines Objektivismus zu erkennen glaubte; Umberto Eco etwa interpretiert das Peircesche Zeichenmodell vor diesem Hintergrund: Immer detailliertere und zutreffendere Bestimmungen eines Objekts sorgen für eine zunehmend exaktere Objektbeschreibung; dieser Prozeß führt "in the long run" zu einer endgültigen Ausbestimmung eines Objekts durch logische Schlüsse, wenngleich in der Praxis lediglich ein Objektivitätsideal die approximative Annäherung und den damit verbundenen Erkenntnisfortschritt reguliert. Was nun als gültige Beschreibung eines Objekts gilt, das entscheidet – und dieses Element wird in Ecos Interpretation nicht ausreichend berücksichtigt – der Konsens der Gemeinschaft von Interpreten. Eine wissenschaftliche Theorie etwa ist gültig, wenn sie die Anerkennung der "scientific community" findet. Zumindest vorläufig endgültig "wahr" ist sie, wenn sie zu Handlungsmustern und -dispositionen führt. Erst diese – wie man sagen kann – Säkularisierung wissenschaftlichen Wissens stoppt den Prozeß der Semiose, wenngleich er mit neuen Erkenntnissen und Erfahrungen beständig wieder in Bewegung geraten kann. Der Prozeß der Semiose weist eine teleologische Struktur auf, allerdings ist diese nur mittelbar in einem Objektivismus gegründet. Die Basis von Symbolisierung und Pluralisierung bildet in der Peirceschen Zeichenlogik ein Konsensmodell der Erfahrung, dessen transzendentalphilosophischer Restbestand weniger in einer Ontologie der Präsenz als vielmehr in der Annahme einer auf Konsens gegründeten Interpretationsgemeinschaft beruht.


Auch Cassirer geht in der Symboltheorie einerseits von der Pluralisierung der Bedeutung in gleichberechtigt nebeneinander stehenden symbolischen Formen – Mythos, Recht, Wissenschaft u.a. – aus, weist andererseits einen diese Kulturbereiche übergreifenden einheitlichen Repräsentationsmodus nach. Nicht ohne Grund beruft Cassirer sich auf das Leibnizsche Projekt einer characteristica universalis, einer Bezeichnungsstruktur, die den kulturell geprägten Symbolisierungsprozessen unterlegt wird. Die Philosophie der symbolischen Formen greift den eigenständigen Repräsentationsmodus unterschiedlicher kultureller Systeme nicht an, wenn sie die Struktur der Repräsentation analysiert. Sie zeigt vielmehr auf, daß das Universum der Dinge ein Universum der kulturellen Symbole ist – der Mensch ist ein animal symbolicus, ein, wie Eco Cassirers Konsequenz beschreibt, zeichenerzeugendes und zeichengebrauchendes Tier.


In der praktischen Philosophie führt die Pluralisierung der Bedeutung zu theoriesystematischen Schwierigkeiten, die letztlich auch über ein Konsensmodell der Erfahrung und Verständigung gelöst werden sollen. Meads Sozialphilosophie anerkennt die Pluralität von Bedeutungskontexten – universes of discourse – hält jedoch einen umgreifenden universal discourse für möglich, der die Verständigung über sprachliche, ethnische und nationale Grenzen hinweg gestattet. Morris erhebt die Philosophie, die als einziger Kulturbereich von der Kontextualisierung ausgenommen bleibt, in die Rolle einer Übersetzerin zwischen den Diskursen und sieht ihre Aufgabe zudem in einer orientierenden Instanz, die dem Individuum Halt zwischen den pluralen Bedeutungskontexten ermöglicht. Habermas hält an einem Ideal herrschaftsfreier Kommunikation fest, in dem die gesellschaftlichen Normen je situativ aufgebrochen und neu verhandelt werden können. Auch hier bleibt ein transzendentalphilosophischer Restbestand, eine – wie es Kant in der Kritik der Urteilskraft nannte – "allgemeine Mitteilbarkeit", mit der einerseits die Singularität subjektiver Urteile, andererseits die Differenz divergierender Bedeutungsfelder überbrückt wird. Radikalisiert wird der Pluralisierungsgedanke später etwa von Lyotard, der – mit Bezug auf Wittgenstein und kritisch gegen Morris gewandt – nachweist, daß es jenseits der prinzipiell inkommensurablen Diskurse keinen Metadiskurs als versöhnenden oder vermittelnden Kommunikationsmodus geben kann. In Le différend wird aufgezeigt, wie heterogene Sätze einer bestimmten Diskursart (Lyotard nennt die Technik und die Tragödie) sich aufgrund dieser Zugehörigkeit auf einen gemeinsamen, diskursspezifischen "Zweck" hinordnen. Disparate Aussagen verbinden sich "mittels Verkettungen, die es auf den dieser Diskursart eigentümlichen Erfolg abgesehen haben".[3] Demnach gibt es keine Sätze, die schlechthin außerhalb eines Diskurses geäußert werden können: "Die Diskursarten schreiben [...] den Sätzen die Zweckbestimmung einer erfolgreichen Anordnung vor, die jeder Diskursart eigentümlich ist".[4] Anders als in Morris’ Analyse der verschiedenen Diskursarten wird hier auch der Philosophie, die sich traditionell als "Meta-Diskurs" oder "Legitimationsdiskurs" begreife, wenn sie Bedingungen und Möglichkeiten von Wissen untersucht, keine Sonderstellung eingeräumt. Ungeklärt freilich bleibt die Korrelation der getrennten Felder der Kultur, ungeklärt auch, welchem Diskurs nun die Legitimation zum Aufweis der Differenzen zukommt. Diese Problematik läßt sich leicht auf interkulturelle Differenzen ausweiten. Hat man sich einmal auf die Ausdifferenzierung inkommensurabler Kultursphären eingelassen, bleibt die Frage nach der Legitimation eines Metadiskurses, der etwa diskursübergreifende 'Zwecke' zu setzen in der Lage sein kann. Denn auch jene angenommenen, den diskursiven Ordnungen vorausliegenden 'herrschaftsfreien Diskurse', in denen sich diskursiv verfestigte Ansichten problematisieren lassen sollen, sind letztlich institutionell reglementierte Formen des Gesprächs, die einer kulturellen, diskursiven Ordnung immer schon aufruhen.


Vor dem Hintergrund der beschriebenen Pluralisierungsbewegung lassen sich die ausdifferenzierten Bedeutungskontexte theoriesystematisch kaum noch zu einer Einheit zusammenfassen. Verbindungen zwischen den verschiedenen universes of discourse können allenfalls als Übergänge beschrieben werden, setzt man nicht – wie etwa Mead, Cassirer und auch Habermas – die Universalität der Vernunft als Fundament eines Konsensualismus noch voraus. Es wird ersichtlich, dies nur in Parenthese gesagt, wie nicht nur die kontinentale Philosophie der Moderne noch von Kants kritischer Systemarchitektur beeinflußt ist. Zeichenprozesse sind stets durch die Codes, die einzelne Systemfelder aufrichten, beeinflußt. Es scheint, als könne eine zeichentheoretisch fundierte Theorie der Kommunikation nicht nur die Integration differierender Zeichensysteme nicht erklären, sondern auch der Dynamik kultureller Formationen nicht gerecht werden, da ein semiotisches Modell der Kommunikation Stabilität und Invarianz von Zeichensystemen voraussetzen muß. Damit ergäbe sich in veränderter Theoriearchitektur erneut ein 'harter' Gegenstandsbegriff, der nun allerdings durch die Codierungsleistung bestehender Zeichensysteme bedingt wäre.


Um auch die Dynamik kultureller Entwicklungen in den Blick zu bekommen und eine Theorie des Neuen, der Kreativität aufzurichten, hat sich die angelsächsische Tradition der Semiotik seit Peirce bemüht, auch die Transformation existierender Zeichensysteme theoriesystematisch zu begründen. Grundlage eines dynamischen Zeichenmodells ist Peirces Abduktionstheorie, deren Leistung einerseits darin zu sehen ist, daß die Semiotik Transformationen bestehender Zeichensysteme in den Blick bekommt, andererseits darin, daß ein verbindendes Modell der Kreativität entwickelt wird, das jenseits eines Methodendualismus für Erfahrungsprozesse überhaupt Geltung beansprucht.


Man hat die Semiotik gelegentlich zu einseitig als Strukturalismus interpretiert, der sich zwar zu einer Theorie sozialer Systeme ausweiten läßt, jedoch individuelle Zeichenprozesse nicht in den Blick bekommt bzw. diese auf bereits bestehende Codierungssysteme zurückführt. Damit stünde eine semiotische Sozialtheorie in der Tradition konservativer politischer Theorien, die individuelle Aspekte des Sozialen allenfalls noch in einer Entlastungsfunktion sozialer Institutionen hervorheben können. Man fühlt sich an die Auseinandersetzung zwischen Gehlen und Adorno erinnert – Adorno, der in der Entlastung, die aus Gehlens Beschreibung einer institutionell reglementierten sozialen Welt resultiert, eine Belastung, ja eine Negation individueller Bildungsprozesse sah. Die vorgebliche Sicherheit sozialer Institutionen und damit festgefügter Erklärungsmuster ist trügerisch, insofern der Erfahrungsraum des Individuums begrenzt wird und individuierende Bildungsprozesse nicht mehr stattfinden können. In der Tat haben populäre Peirce-Interpreten wie Umberto Eco stets betont, daß Zeichenprozesse nur in Korrelation zu bestehenden Codes erklärt werden können, und durch ausgreifende Theorien der Codes den Schluß nahegelegt, das Zeichenuniversum sei ein deterministisches Gefüge, in dem es nur recognition of the familiar geben könne. Dies hieß aber auch für den Peirce-Kenner Eco nie, daß die Semiotik sich einseitig auf eine Theorie der Codes reduzieren läßt. Im Gegenteil wurde in der Tradition der Peirceschen Semiotik hervorgehoben, daß man sich eine semiotische Sozialtheorie als dialektisches Theoriegefüge vorstellen muß, das von einer Korrelation zwischen System und Prozeß ausgeht: Individueller Zeichengebrauch transformiert bestehende Codes; diese wiederum nehmen Einfluß auf den jeweiligen Zeichengebrauch.[5] Daß und wie bestehende Codes stets transformiert werden und die kulturelle Welt insofern ein dynamisches Zeichenuniversum darstellt, wird mit Rückgriff auf Peirces Abduktionsschlüsse erklärt: Gegenüber der unerschöpflichen Welt der Tatsachen stellen die sozialen Codes eine Reglementierungsfunktion mit Erklärungscharakter lediglich für eine Auswahl an Phänomenen bereit. Menschliche Erfahrung findet jedoch nicht in einem abgeschlossenen Erfahrungsfeld statt, sondern stößt kontinuierlich an Grenzen der Erfahrung, an nicht erklärbare Tatsachen oder Anomalien. In der Terminologie der kritischen Philosophie gesprochen – Erfahrungsprozesse können unzweckmäßig für Verstand und Vernunft sein, sich nicht unter bereits gegebene Begriffe subsumieren lassen. Für Kant ein Grenzfall menschlicher Erfahrung, die Aufgabe der Urteilskraft erschöpft sich nicht vollständig in einem Subsumptionsakt; die Gesetze der Erfahrung, die erst ein sinnlich gegebenes Phänomen zu einer erklärbaren, d. h. gedanklich faßbaren Tatsache machen, müssen aufgefunden oder erfunden werden. Neben die bestimmende setzte Kant daher die reflektierende Urteilskraft, die eine Synthetisierungsleistung ohne das Begriffsinstrumentarium des Verstandes zu erbringen hat. Stellt diese Reflexionsleistung der Urteilskraft für Kant eine Grenzerfahrung dar, die sich vornehmlich bei Urteilen über das Schöne und das Erhabene zeigt und auch nur hier dem sich seiner Freiheit selbstvergewissernden Subjekt transparent wird, weist Peirce die permanente Präsenz solcher Urteile nach. Nicht nur im Bereich wissenschaftlicher Forschung, sondern auch und gerade in der Alltagserfahrung spielen neben Deduktions- und Induktionsschlüssen Abduktionsschlüsse mit hypothetischem Charakter eine zentrale Rolle. Das bestehende Universum von Zeichensystemen wird durch abduktive Vermutungsschlüsse beständig transformiert und erweitert. Geltung freilich können Abduktionsschlüsse erst dann beanspruchen, wenn sie durch weitere Experimente bestätigt sind und Anerkennung durch die Interpretationsgemeinschaft gefunden haben. Für die moderne Zeichentheorie stellt sich allerdings die Frage, ob sich dieses Modell der Erfahrung noch mit dem Peirceschen Objektivitätsideal verbinden läßt. Dienen Abduktionsschlüsse tatsächlich der von Peirce intendierten approximativen Annäherung und führen in the long run zu einer Ausbestimmung eines Objekts durch logische Schlüsse und daraus resultierende Handlungsdispositionen? Eco etwa weist den Peirceschen "Objektivismus" zurück, will allerdings die umgekehrte Konsequenz, die Derrida in der Grammatologie zieht, nicht einkaufen: Die freie Drift von Interpretationen und den Abschied vom Objektbezug einer Zeichenrelation. Dies allerdings führt Eco letztlich in ein argumentatives Dilemma: Gegen die Dekonstruktion beharrt Eco auf Peirces Teleologie der Zeichenprozesse, gleichzeitig will er das Objektivitätsideal der Semiotik überwunden wissen. Hier zeigt sich deutlich die Konsequenz der beiden für die Moderne charakteristischen Gedankenfiguren: Die Pluralität der Bedeutungsfelder scheint als logische Konsequenz in einen Relativismus der Interpretationen zu münden, der nur durch den Hinweis auf eine einheitliche Struktur des Repräsentationsprozesses abgewehrt werden kann. Noch am Ende der Moderne also sind die beiden Gedankenfiguren – Pluralität und Symbolisierung – eng miteinander verknüpft. Im Konsensualismus, der mehr ist als ein Relikt des kritischen Idealismus, werden beide Gedankenfiguren zusammengeführt und bilden das Fundament sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie der Moderne.

 

Anmerkungen:

[1] Waldenfels 1992, S. 16. – Merleau-Ponty greift die Husserlsche Erkenntnistheorie auf und führt sie konsequent fort, wenn er von der „Ambiguität" der Erfahrungsprozesse spricht und eine grundsätzliche „Opazität der Welt" konstatiert. (> zurück)

[2] Vgl. Schalk 1998. (> zurück)

[3] Lyotard 1987, S. 216. (> zurück)

[4] Ebd. S. 217. (> zurück)

[5] Vgl. dazu genauer Schalk 1999. (> zurück)

 

   

 

Literatur:

George Boole: An Investigation of the Laws of Thought, on which are Founded the Mathematical Theories of Logic and Probabilities (1854). New York 1961.

Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. 10. Aufl. Darmstadt 1994.

Augustus De Morgan: Formal Logic: or, the Calculus of Inference. London 1847.

Augustus De Morgan: On the Structure of the Syllogism, and on the Application of the Theory of Probabilities to Questions of Argument and Authority. In: Transactions of the Cambridge Philosophical Society 8 (Cambridge 1846) S. 379-408.

Umberto Eco: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen. 2., korrigierte Aufl. München 1991.

Jürgen Habermas: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt/M. 1991.

Jean-Francois Lyotard: La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris 1979 (dt.: Das postmoderne Wissen: ein Bericht. Graz, Wien 1986).

Jean-François Lyotard: Le différend. Paris 1983. (dt.: Der Widerstreit. München 1987).

George Herbert Mead: Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, hrsg. von Charles William Morris. Chicago/Ill., London 1963.

Charles William Morris: Signs, Language, Behavior. Englewood Cliffs/ N.Y. 1946 (dt.: Zeichen, Sprache, Verhalten. Düsseldorf 1973).

Charles Sanders Peirce: Collected Papers. 8 Bde. Bde. 1-4, hrsg. von Charles Hartshorn und Paul Weiss. Cambridge/Mass. 1931-1935. 2. Aufl. in drei Bdn. 1960. Bde. 7-8, hrsg. von Arthur W. Burks. Cambridge/Mass., London 1958.

Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften, hrsg. und übers. von Christian Kloesel und Helmut Pape. 3 Bde. Frankfurt/M. 1986-1993. Bd. 1 (1986), Bd. 2: 1903-1906 (1990), Bd. 3: 1906-1913 (1993).

Charles Sanders Peirce: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hrsg. von Karl-Otto Apel. Frankfurt/M. 1991.

Helge Schalk: Diskurs. Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff. In: Archiv für Begriffsgeschichte 40 (1997/98), S. 57-105.

Helge Schalk: Kulturelle Welten – Universes of Discourse. In: Journal Phänomenologie 10 (1998), S. 2-9.

Helge Schalk: Umberto Eco und das Problem der Interpretation: Ästhetik, Semiotik, Textpragmatik. Würzburg 1999.

Helge Schalk: Semiotik als Kulturtheorie bei Umberto Eco. In: Kodikas/Code. Ars Semeiotica 21 (1998) S. 129-142.

Bernhard Waldenfels: Einführung in die Phänomenologie. München 1992.