EcoOnline Logo Helge Schalk
Der gesamte Eco –
Ästhetiker, Romancier, Semiotiker, Literaturtheoretiker

Rezension zu:
Rocco Capozzi (Hg.): Reading Eco. An Anthology. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press 1997 (=Advances in Semiotics, Thomas A. Sebeok, General Editor). 476 Seiten. US $ 90,– (kart.).

Zuerst erschienen in: Journal Phänomenologie 9 (1998).

Die Fülle an Literatur von und zu Eco hat inzwischen jenes Maß an Zumutbarkeit erreicht, das es eigentlich gebieten sollte, von weiteren Publikationen in dieser Sache Abstand zu nehmen.[1] Im Umfeld der Indiana Group, dem wohl bekanntesten und einflußreichsten Kreis amerikanischer Semiotiker um Thomas A. Sebeok, ist jetzt eine Antologie von Primär- und Sekundärtexten zu den unterschiedlichen Themenfeldern entstanden, mit denen sich Eco seit dem frühen Erfolg mit dem offenen Kunstwerk befaßt hat. Der vorliegende Sammelband, der vor allem zum Gebrauch im akademischen Unterricht konzipiert worden ist, soll eine erste Orientierung sowohl zu Ecos theoretischen Studien als auch zu den drei Romanen bieten.

Die Auswahl der Primärtexte (Part I, S. 1-70) fällt sehr knapp aus, und sie ist angesichts der zahlreichen und breitgefächerten Studien Ecos zur Ästhetik, (Kultur)semiotik, Textpragmatik, Massenkultur, Philosophie des Mittelalters, Sprachtheorie und -geschichte, um nur einige Schwerpunkte aufzuzählen, sicher nicht repräsentativ zu nennen. Ausgewählt wurden Aufsätze zum Verhältnis von Semiotik und Sprachphilosophie, zur modernen Massenkultur, zur Kultursemiotik[2] und schließlich zur Theorie der Textinterpretation. Zum letzgenannten Themenfeld sind zwei Texte abgedruckt, die einerseits dem Umfeld von Lector in fabula entstammen und die Modell-Rollen-Konzeption Ecos verdeutlichen.

Bekanntlich hatte Eco Ende der siebziger Jahre Autor und Leser als empirische Personen 'abgeschafft' und ihre Beteiligung an Lektüre- bzw. Interpretationsprozessen als Rollenverhalten erläutert, das durch Textstrategien vorbestimmt und gelenkt werde. Andererseits werden die neueren Thesen Ecos zur Interpretation narrativer Texte vermittelt, wie sie jüngst in Die Grenzen der Interpretation und Zwischen Autor und Text vorgelegt worden sind. Hatte Eco sich mit den Thesen des offenen Kunstwerks quer zur strukturalistischen Doktrin gestellt und die "Offenheit" von Kunstwerken im Hinblick auf die Beteiligung der Rezipienten an deren Verwirklichung betont, wird nun vor allem gegen den modischen Trend der Dekonstruktion die interpretative Kooperation als Erfassung und Beschreibung einer intentio operis bestimmt, als deren Voraussetzung zunächst einmal das Verstehen des "wörtlichen Sinns" eines Textes angesetzt wird.

Ein Schwerpunkt und eine innovative Leistung des vorliegenden Bandes ist der Nachweis der Kontinuität und Konvergenz der Ecoschen Überlegungen zur Ästhetik und Literaturtheorie, denn nach Erscheinen von Die Grenzen der Interpretation wurde von vielen Interpreten mit Unverständnis auf eine vorgebliche konservative Kehre des Semiotikers reagiert, die sich daran zeige, daß von der Offenheit der Kunst nun anscheinend vehement Abstand genommen werde. Viele der hier versammelten Aufsätze machen dagegen deutlich, daß man Ecos Theorie der Offenheit in der Vergangenheit zu einseitig verstanden hatte – auch und gerade, weil man die phänomenologischen Wurzeln Ecos, der durch seinen akademischen Lehrer Luigi Pareyson früh mit Husserl und Merleau-Ponty vertraut wurde, übersah – und daß Eco nie behauptet hat, die Bedeutung eines Kunstwerks werde durch die Beteiligung des Rezipienten beliebig. Gerade im offenen Kunstwerk war Eco an einem im Anschluß an Husserl konturierten genuin phänomenologischen Gegenstandsbegriff orientiert, aus dem sich ergab, daß im Rezeptionsprozeß der (modernen) Kunstwerke eine gegenständliche Struktur ebenso maßgeblich beteiligt ist wie die Interpretationsleistung des Rezipienten. Der Begriff der Offenheit ergab sich, viel eher als durch die Anlehnung an Wölfflin (der den Begriff einst für den freien atektonischen Stil der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts prägte), durch die Impulse, die von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung ausgingen: Wenn eine grundsätzliche Offenheit gegenständlicher Strukturen mit dem Verweis auf die unhintergehbare Opazität der Welt verbunden wurde, dann waren dies Gedanken, die bei Ecos Theorie ästhetischer Offenheit und ihrer epistemologischen Fundierung im Hintergrund standen. Ein Text aus dem Umfeld des offenen Kunstwerks freilich fehlt in dem Sammelband, wohl auch deshalb, weil diese frühe Schaffensphase für die Amerikaner durch die erst relativ späte Publikation der amerikanischen Übersetzung (The Open Work, 1989) in anderem Licht erscheint.

In Part II werden 12 Sekundärtexte zu Eco und dem theoretischen Umfeld zusammengestellt. Hervorgehoben werden sollen einige Beiträge, die zu bislang wenig bearbeiteten Aspekten und Themen Stellung nehmen. Der Beitrag von Hanna Buczynska-Garewicz (Semiotics and Deconstruction, S. 163-172) greift eine Thematik auf, die Eco im Zusammenhang mit den neueren Überlegungen zum Prozeß der Textinterpretation deutlich akzentuiert hat, um sich von Modellen der Fehlinterpretation abzugrenzen (vgl. z. B. Die Grenzen der Interpretation, S. 430ff.). Eco zufolge müssen auch (literarische) Texte als "dynamische Objekte" (im Peirceschen Sinn) betrachtet werden, deren Bedeutung demnach nicht vollständig durch die Interpreten konstruiert wird.[3] Anschaulich werden methodisches Verfahren und theoretisches Anliegen von Semiotik und Dekonstruktion kontrastiv gegenübergestellt. Ausgangspunkt der differenzierten Gegenüberstellung sind die Passagen aus Derridas Grammatologie, in denen Peirces Modell der unendlichen Semiose als Vorläufer einer Dekonstruktion des traditionellen Zeichenmodells interpretiert wird, mit dem Ziel, Bedeutung via Objektpermanenz aus der triadischen Zeichenrelation auszuschließen (vgl. Grammatologie, dt. 1974, S. 85f.). Buczynska-Garewicz macht deutlich, daß Derridas Peirce-Interpretation das triadische Zeichenmodell der Semiotik um den Objektpol, d. h. den Repräsentationsaspekt der Zeichenrelation verkürze,[4] und sie kommt wie Eco zu dem Schluß, daß sich die dekonstruktivistische 'Methode' nicht auf das von Peirce entwickelte Modell der unendlichen Semiose stützen könne. Einsichtig wird dies vor allem durch den deutlichen Hinweis auf das Peircesche Fortschrittspostulat, demgemäß der semiosische Interpretationsprozeß einen kontinuierlichen Erkenntnisfortschritt impliziert, der schließlich – "in the long run" – zur allgemeingültigen und verbindlichen Ausbestimmug eines Objekts durch seine Schlüsse führt. Die Semiose strebt teleologisch, zumindest approximativ, jenem Punkt zu, an dem das bezeichnete Objekt und der durch das charakteristische Zeichen ausgelöste Interpretant sich deckungsgleich überlagern: ein Gedanke, der sich offensichtlich nicht in einen dekonstruktivistischen Theorierahmen einfügen läßt.

Auch der Beitrag von John Deely[5] ist von besonderem Interesse, da hier ein Kernargument Ecos, das auch einen gewichtigen Unterschied zur Peirceschen Semiotik markiert, angegriffen wird. Deely hat Eco vorgeworfen, die Unterscheidung zwischen natürlichen und artifiziellen Zeichen nicht berücksichtigt zu haben. Seine Kultursemiotik, die in A Theory of Semiotics mit dem Ziel in den theoretischen Diskurs der Semiotik eintrat, den Zeichenbegriff durch den der Zeichen-Funktion zu ersetzen und so die semiotische Forschung insgesamt anders und neu grundzulegen, bleibe letztlich hinter traditionellen Zeichenmodellen zurück, da Ecos genuin kulturelle Semiose keine Differenzierung des genus Zeichen in die species von Natur- und artifiziellen Zeichen mehr erlaube. Zudem bleibe Ecos Zeichenmodell den Nachweis schuldig, daß die Verknüpfung von Zeichen und Bezeichnetem ausschließlich kulturell motiviert sei, eine Kritik, die sich bei Kenntnis der Ecoschen Semiotik allerdings nur dann aufrechterhalten läßt, wenn man die kulturtheoretische Ausrichtung der Semiotik insgesamt für unzulässig hält: Entweder ist alles Wissen kulturell geprägt, auch das der Naturzeichen, oder man sollte eine Kultursemiotik mit der universellen Reichweite des Ecoschen Modells erst gar nicht begründen. Zudem verfehlt Deelys Kritik Ecos eigentliche Motivation, wenn er versuchte, alle Zeichenbedeutung kulturellen Codes zu korrelieren; diese lag doch in dem Anspruch, den 'referentiellen Fehlschluß', wie er etwa in der zeitgenössischen Semantik bisweilen noch anzutreffen ist, zu vermeiden und – auf den Schultern von Peirce – an die Systemstelle des Bedeutungsbegriffs den der Interpretation zu setzen.

Zur viel und kontrovers diskutierten Position Ecos im Streitfeld um die Interpretation literarischer Texte, die die Arbeit am und mit dem Text betont und das Geschäft des Interpreten in der Beschreibung und Bestimmung einer intentio operis sieht – wohlgemerkt, als Unterstellung seitens des Lesers –, empfiehlt sich der scharfsinnig analysierende Beitrag des Herausgebers Rocco Capozzi (Interpretation and Overinterpretation. The Rights of Texts, Readers and Implied Authors, S. 217-234). Hier wird treffend nachgewiesen, daß Autor- und Textintention auch aus der Ecoschen Perspektive letztlich nicht zu trennen sind – eine originelle aber nachvollziehbare Schlußfolgerung, die die Ecosche Position letztlich in einem anderen Licht erscheinen läßt.

Der Sammelband, dessen dritter Teil schließlich 10 Beiträge zu Ecos Romanen enthält, ist ein empfehlenswerter Überblick, der seine zu lobende Qualität vor allem durch die Auswahl der Beiträger bezieht, die durchweg gute Kenner der Semiotik und der Ecoschen Schriften sind. Zu kritisieren aber ist zum Schluß die große Anzahl an Fehlern, die z. T. das Auffinden der in der umfangreichen Bibliographie genannten Literatur unmöglich macht. Auch die Quellennachweise der Primärtexte sind nicht vollständig; zudem wurden bei dem Beitrag von Capozzi die Anmerkungen nicht mitabgedruckt.

 

   

Anmerkungen:

[1] Einen Überblick über die Sekundärliteratur verschafft eine von Eco zusammengestellte (z. Zt. nur in elektronischer Form verfügbare) > Literaturliste. Als Einführung zu Eco sei (offline) auf den im Junius-Verlag erschienenen Band von Dieter Mersch: Umberto Eco zur Einführung (Hamburg 1993) und (online) auf den von Scott Simpkins moderierten Kurs am > Cyber Semiotic Institute hingewiesen. (> zurück)

[2] Etwas unverständlich ist es, daß der Herausgeber zu diesem wichtigen Schwerpunktthema Ecos ausgerechnet einen Text über die Kultursemiotik Lotmans ausgewählt hat, anstatt auf einen einschlägigen Aufsatz zum Thema zurückzugreifen (beispielsweise U. Eco: Looking for a logic of culture. In: The Tell-Tale Sign: A Survey of Semiotics, hrsg. von Thomas A. Sebeok. Lisse 1975, S. 9-17). (> zurück)

[3] Mit Rekurs auf die Peircesche Semiotik bestimmt Eco auch literarische Texte als "dynamische Objekte"; d. h. als Gegenstände, die zwar als "unmittelbare Objekte" allen erst im Prozeß der Interpretation erfolgenden Konkretisierungen vorausgehen, jedoch nur vermittels Interpretation erfahren werden: "Man kann im Zusammenhang der von mir behandelten Thematik von Dynamischen Objekten auch bei Texten sprechen, denn das Dynamische Objekt kann nicht nur ein Element der Ausstattung der physischen Welt sein, sondern auch ein Gedanke, ein Gefühl, eine Geste, eine Empfindung, eine Ansicht." (Die Grenzen der Interpretation, S. 436) Dies bedeutet, daß sich die Interpretation des Rezipienten stets auf einen konkreten Gegenstand bezieht und diesen beschreibt. Dies bedeutet zugleich, daß die Interpretation ihr jeweiliges Objekt bestimmt und daher auch falsch bestimmen kann. (> zurück)

[4] Auf ähnliche reduktionistische Tendenzen weist auch Ludwig Nagl in seiner Einführung zu Peirce hin; vgl. L. Nagl: Charles Sanders Peirce. Frankfurt/M., New York 1992, S. 33f. (> zurück)

[5] John Deely: Looking back on A Theory of Semiotics: One Small Step for Philosophy, One Giant Leap for the Doctrine of Signs, S. 82-110. (> zurück)