Helge Schalk

Zu: Michael Nerlich: Umberto Eco. Die Biographie. Tübingen: Narr Francke Attempo, 2010. 350 Seiten mit 28 z.T. farbigen Abb., EUR 29,80.

(18.8.2010)

Mit Michael Nerlichs Biografie liegt erstmals eine Darstellung zu Ecos Leben und belletristischem Gesamtwerk in deutscher Sprache vor. (Die – wegen der semiotisch-philosophischen Bezüge nach wie vor lesenswerte – Einführung von Dieter Mersch, die bereits 1993 im Junius-Verlag erschien, konnte damals naturgemäß lediglich die ersten beiden Romane berücksichtigen.) Auf 350 Seiten gibt der Verfasser, nach eigenem Bekunden Eco-Liebhaber und -Kenner seit den 1970er Jahren, einen Überblick über das literarische Schaffen des Italieners, der mehr noch ein genauer Einblick in die intellektuelle venia des italienischen Bestsellerautors sowie in die kulturellen und politischen Umstände Italiens ist. Nerlich geht es darum, Ecos Werke – der Akzent liegt auf den bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vorliegenden fünf Romanen – im Kontext verständlich zu machen. Dazu greift er weit aus, denn Ecos historische Romane erfordern stets eine weite Perspektive, aus der allein die zahlreichen Bezüge und Lektüreebenen verständlich gemacht werden können. Damit ist zum einen der konkrete Bezug zur sozialen, kulturellen und politischen Situation in Italien gemeint. Nerlich kennt sich hier vorzüglich aus und liefert wertvolle Hintergrundinformationen. Zum anderen gilt es, das Setting der Romane in der jeweiligen historischen Situation zu erklären, also vor allem im Mittelalter und Barock. Auch hier liefert der Verfasser wichtige Informationen. In der Hauptsache erfahren interessierte Leserinnen und Leser viele Details zu den zahlreichen Anspielungen und intertextuellen Bezügen des Eco'schen Oeuvres, die gelegentlich mit dem Gestus erstmaliger Enträtselung präsentiert werden. Nerlich will auch die kulturwissenschaftliche/philosophische Tiefe der Romane verständlich machen, ein anspruchsvolles – und insgesamt gelungenes – Unternehmen, denn allein die in vielen Sprachen bislang vorliegenden Untersuchungen zum Rosenroman füllen inzwischen einen Bücherschrank (siehe dazu die Auswahlbibliografie auf Ecos Homepage: http://www.sssub.unibo.it/pagine_principali/Curriculum_eco.htm). Der vorliegende Band wäre aber nicht mit Recht in erster Linie eine Biografie, würde der Verfasser nicht auch die Situation des Autors Eco berücksichtigen und die Entstehungsbedingungen der Romane und anderen Schriften betrachten. Hier greift Nerlich auf die vorliegenden anderen biografischen Untersuchungen zurück, zumeist Interviews, allen voran das Buch von Thomas Stauder (Gespräche mit Umberto Eco, 2004), da es – wie Nerlich im Vorwort bekennt – zu einer persönlichen Begegnung bislang nicht kam.

Etwas störend ist bisweilen Nerlichs Absicht, dem deutschen Feuilleton eine neue Sichtweise auf den Autor Eco in die Feder diktieren zu wollen. Dazu entfaltet der Verfasser auf vielen Seiten die These, Eco habe in Deutschland mit Missachtung bzw. Missbilligung und Geringschätzung der Medienlandschaft zu kämpfen. Diese Beobachtung, wohl ein wichtiger Antrieb für das vorliegende Buch, wird nicht jeder uneingeschränkt teilen. Ich versuche, meine Einschätzung am Beispiel von Ecos dritten Roman Die Insel des vorigen Tages zu konkretisieren: Dass die FAZ  seinerzeit (18.03.1995) mit Kurt Flasch immerhin einen der weltweit angesehensten Mittelalter-Kenner für die Rezension des Insel-Romans gewonnen hat, erscheint mir als Zeichen für die Hochachtung vor dem philosophischen Potential dieses Romans. Vielleicht hat Nerlich die ablehnende Rezension von Andreas Kilb in der ZEIT so verärgert, dass er dessen Kritik am professoralen Gestus eines »Professor Dr. Umbertus Ecus« etwas zu sehr pauschalisiert hat (DIE ZEIT, Nr. 12, 17.03.1995). Der SPIEGEL flankierte die negative Besprechung von Johannes Saltzwedel immerhin mit einem – wie stets von Burkhart Kroeber brillant übersetzten – Text Ecos und widmete allein diesem Roman damit ganze drei Seiten (mit drei Bildern; DER SPIEGEL 11/1995). Und am Rande zu sagen, »[d]as Buch hat Längen«, wie Elisabeth Endres in ihrer insgesamt doch kenntnisreichen Rezension für die Süddeutsche Zeitung vom 06.03.1995, ist keine Ignoranz, sondern einfach eine Tatsache – da muss auch ich bei aller Wertschätzung für den Inselroman zustimmen. Also, zuerst einmal zeigt sich an diesen stellvertretend für ganz viele Presseberichte angeführten Reaktionen auf den Roman: Was für ein Medienecho! Welcher Autor kann dies schon für sich reklamieren? Und dann: dass die deutschen Medien mitunter hart und sogar härter mit Autoren ins Gericht gehen, ist schlichtweg Normalität, wie beispielsweise ein Blick in die WAZ vom 18.08.2010 zeigt, die titelt (sic!): »Der neue Grass – er nervt«. – Auch von daher: Die häufige Wiederholung der vorgeblichen Ignoranz und Fehleinschätzung des Italieners durch die deutschen Medien stört gelegentlich das Lesevergnügen an Nerlichs Buch. Schließlich: Hat nicht Eco selbst in seinen zahlreichen textsemiotischen Schriften und auch im berühmten Nachwort zum Namen der Rose bekundet, der Autor dürfe die Eigenbewegung seiner Texte durch divergierende Interpretationen nicht stören? Vielleicht wäre ein weniger schulmeisterlicher Umgang mit den zu erläuternden Texten auch deshalb sachangemessener. Ein Roman wird nicht schlechter, nur weil LeserInnen hier und da ein paar Seiten überblättern, »Textintention« hin oder her. Das gilt für Homer, für Goethe, für Grass und auch für Eco.

Neben den Interpretationshilfen zu den Romanen liefert Nerlich Informationen und Hintergründe zum Essayisten, zum Glossator, zum gesellschaftskritisch-engagierten Intellektuellen und auch zum Kinderbuchautor Eco (leider nicht zum Co-Autor eines Cocktail-Buchs, der gewesen zu sein Eco einmal vorgab, was ich leider bislang nicht verifizieren konnte …). Wer bislang nur den Romancier kannte, wird über das große Schaffensspektrum des Autors in Verbindung mit seiner aufrechten politischen Gesinnung vor dem Hintergrund der wechselvollen jüngeren und jüngsten italienischen Geschichte und politischen Szenerie aufgeklärt. Allerdings muss man auch hier gegen die Missachtungsthese Nerlichs in Feld führen, dass Ecos politisches Engagement und seine Rolle als schreibender Humanist – also etwa die Auseinandersetzung mit Kardinal Martini, mit der Politik Berlusconis, mit der Rolle der Mafia u.v.m. – in der deutschen Presselandschaft stets durchweg vernehmlich und auch zustimmend aufgenommen wurden.

Abgerundet wird das Buch von einer übersichtlich gegliederten Bibliografie, die auch Internetquellen benennt. Nerlichs intellektuelle Biografie ist eine gelungene Synopsis der literarischen Werke Ecos vor dem Hintergrund ihrer historischen und philosophischen Dimension. Es ist eine große Leistung des Biografen, den Autor zuweilen besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Eco hat oft bekannt, dass ihm selbst zahlreiche Anspielungen und intertextuelle Bezüge in seinen Texten erst im Nachgang durch Interpretationen der LeserInnen bewusst wurden. Insbesondere Liebhaber der Romane kommen auf ihre Kosten, weil sie Insider- und Detailwissen vermittelt bekommen – mit vielen Aha-Effekten in plausibler und sprachlich gut nachvollziehbarer Form. Nerlich simplifiziert Sachverhalte nicht, sondern traut seinen LeserInnen die Motivation zu, sich Zusatzwissen anzulesen. Es ist zu wünschen, dass Autor und Verlag in der Zukunft eine Neuauflage planen, die dann auch den im Erscheinen begriffenen sechsten Roman des Italieners beleuchten könnte. Vielleicht gelänge neben dem Verzicht auf die mitunter anklagende Diktion sogar die zumindest partielle Integration der angelsächsischen/weltweiten Rezeption Ecos, die – man denke etwa an den Sammelband von Rocco Capozzi sowie an die vielen lediglich in elektronischer Form vorliegenden Arbeiten zu Eco – hier und da eine weitere Betrachtungsperspektive erlaubte.

Helge Schalk (helge.schalk@rub.de)